Was die politische Ausrichtung und den Zeitgeist betrifft, sehe ich keine großen Unterschiede zwischen der deutschen und der österreichischen Version des Staatsfunks. Aber es gibt einige, wenn es um journalistisches Engagement geht. Es gibt immer noch ORF-Journalisten, die etwas herausfinden und mitmachen wollen, auch wenn im Erdgeschoss keine Aufträge aus dem ersten Stock eingehen.
Gestern Abend versuchte der Innsbrucker Historiker Gerhard Mangold, Prigoschins Kapitulation zu erklären, was mir durchaus plausibel erscheint, auch wenn es sicherlich nur eine Seite des „Aufstands“ beleuchtet: Prigoschin mit seiner täglich unverblümten Kritik an der Moskauer Führungssekte im Ministerium und das militärische Oberkommando gewann viel von der Sympathie des kleinen Mannes und der einfachen Soldaten und mittleren Ränge, und auf entsprechendes Echo versprach er sich viel größere Unterstützung durch die Armee auf ihrem Marsch nach Moskau. Als dies nicht geschah, hätte Prigozhin erkennen müssen, dass er auf diese Weise nach Moskau gelangen könnte, aber er konnte die Konfrontation dort nicht überstehen.
Ich stimme auch Mangolds Einschätzung zu, dass dies nicht bedeutet, dass Prigoschin in Weißrussland ruhig bleiben wird, aber gleichzeitig kann Putin nicht lange mit Prigoschin am Leben bleiben, abgesehen von seiner erklärten Straflosigkeit.
Niemand kann vorhersagen, ob und wie sich Prigoschins Online-Kampagne gegen Moskau nachhaltig auf die Moral der russischen Streitkräfte auswirken wird. Ob und in welcher Zahl die in Russland verbliebenen Söldner in die russische Armee eingegliedert werden, was sie dort erreichen werden oder nicht, ob viele derjenigen, die in die Weiten Russlands vordringen, weiterhin auf Prigoschin hören werden und wie lange, sind weitere offene Fragen . Allein aus diesem Grund würde ich nicht auf Prigozhins langes Leben wetten. Vielleicht wird es eine Prüfung für Putins Nerven sein, zu sehen, wie es Prigoschin geht. Denn ich wage die Prognose: Die Wagner-Gruppe hat keine Zukunft. Privatarmeen sind tot, wenn es keine Befehle und damit auch keine Gehälter gibt.
Die Zahl der Russen, die auf eine innere Verbesserung Russlands setzen, unterliegt einem weiteren Blutvergießen, wie ich von Freunden Russlands (und damit Gegnern Putins) weiß. Leider hat man keinen Zugriff auf die Passagierlisten, aus denen hervorgeht, wie viele und vor allem Menschen Russland gestern mit dem Flugzeug verlassen haben. Bald gab es jedenfalls keine freien Plätze mehr.
Gestern habe ich geschrieben, dass Russland morgen ein anderes Land ist. Putin wird wie bisher weitermachen und an dem veröffentlichten Bild der „Sonderoperation“ in der Ukraine festhalten. Allerdings wurde Putin nach dem „Aufstand“ sowohl national als auch international schwächer als zuvor. Der Unterschied zwischen Russland im Erdgeschoss und im ersten Stock hat sich in den letzten Tagen unwiderruflich vergrößert.