Stand: 26.11.2021 00:00
Der inhaftierte Kulturpastor Kavala steht wieder vor Gericht. Der Europarat droht der Türkei wegen dieses Prozesses mit Ausweisung. Doch die Methode dort ist komplex und von vielen Anliegen beeinflusst.
Heute wird der seit vier Jahren ohne Haftstrafe inhaftierte Menschenrechts- und Kulturförderer Osman Kavala in Istanbul erneut vor Gericht gestellt – in einem Fall, an dem Menschenrechtsaktivisten, die türkische Opposition, Diplomaten und Journalisten der Europäischen Union gleichermaßen beteiligt sind: Der amtierende Staatsanwalt und insbesondere der ihn beschuldigende türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan finanzierte 2013 die Gezi-Proteste und beteiligte sich 2016 an dem Putschversuch – basierend auf Vorwürfen, die nach dem Konsens unabhängiger Beobachter unbegründet sind.
Oliver Mayer Roth
ARD-Studio Istanbul
Der Prozesstag ist sehr spannend, denn der Europarat drohte der Türkei im September mit einem Vertragsverletzungsverfahren wegen Kavalas Verfahren – Frist dafür ist der 30. November. Dann beginnt die nächste dreitägige Sitzung des für solche Fälle zuständigen Gremiums im Europarat. Die Drohung kam nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass die Türkei seit über einem Jahr nicht umgesetzt wurde. Denn dieser sprach Kavala im Mai 2020 von allen Vorwürfen der türkischen Justiz frei. Die Türkei ignoriert das Urteil, obwohl sie Mitglied des Europarats ist, ist sie an die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden.
Komplexer Entfernungsprozess
Stimmen mindestens zwei Drittel der 47 Mitgliedsstaaten des Europarats für die Maßnahmen gegen die Türkei, kann diese disqualifiziert werden. Frank Schwab, SPD-Bundestagsabgeordneter und für Menschenrechte zuständiger Fraktionsvorsitzender, gehe davon aus, dass es diese Zweidrittelmehrheit gebe: Es gebe sogar eine deutliche Mehrheit, sagt er. Erdogan kann das Missbrauchsverfahren nur verhindern, indem er während des Prozesses gegen Kavala seinen Kurs ändert.
Mit dem Fall vertraute Personen sprechen eher von Hausarrest als längerer Untersuchungshaft oder Entlassung bei gleichzeitigem Reiseverbot ins Ausland.
Wenn die Justiz Kavala weiterhin strafrechtlich verfolgt und der Europarat das Ausweisungsverfahren ernst nimmt, wird ein langes zweistufiges Verfahren folgen, so die Kammern des Europarats: Nach der Abstimmung über das Ausweisungsverfahren wird die Türkei gefragt mit der entsprechenden Frist zu kommentieren. Dann muss der Rat den Fall mit Zweidrittelmehrheit an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zurückverweisen – dieser muss prüfen, ob die Türkei nun ihren Verpflichtungen nachgekommen ist.
Bestätigt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schuld der Türkei, müssen die Regierungen der im Rat vertretenen Länder über das weitere Vorgehen entscheiden. Sie können mit Zweidrittelmehrheit den Ausschluss der Türkei aus dem Europarat beschließen. Von dort heißt es jedoch, dass es keinen Mechanismus gibt.
Aserbaidschanischer Präzedenzfall
In der Geschichte des Europarats gab es nur eine Verletzungsmaßnahme: Aserbaidschan wollte trotz des Freispruchs des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte jahrelang die Freilassung des Oppositionspolitikers Ilgar Mammadov nicht. Erst als der Rat ein Verfahren gegen Aserbaidschan einleitete, kapitulierte das dortige Regime. Mammadov verbrachte fünf Jahre hinter Gittern.
Unterdessen hofft Ankara, dass selbst bei einer weiteren Inhaftierung Kavalas nächste Woche die Zweidrittelmehrheit nicht erreicht wird. Unter den 47 Ländern gibt es einige, wie Russland oder Aserbaidschan, die aufgrund politisch motivierter Inhaftierungen möglicherweise mit der gleichen Notlage konfrontiert sind wie die Türkei derzeit. Diese werden wahrscheinlich gegen Vertragsverletzungsverfahren stimmen. Zudem könnte die Türkei im Vorfeld des Treffens Ende November bilateralen Druck auf befreundete Länder ausüben, gegen die Maßnahme zu stimmen.
Die Glaubwürdigkeit des Europarats
Serge Lagodinsky, ein grüner Abgeordneter des Europaparlaments, verfolgt Kavalas Fall seit Jahren und forderte die Türkei wiederholt auf, sie freizulassen. Die Regierung in Ankara habe in den vergangenen Monaten versucht, den Dialog mit der Europäischen Union voranzutreiben. Dazu muss sie jedoch den Mindeststandards des Dialogs, also den Menschenrechten des Europarats, und damit auch den Urteilen des zuständigen Gerichts bedingungslos und vorbehaltlos entsprechen. Sollte die Türkei Kavala nicht freilassen, so Lagodinsky, soll dies Konsequenzen im Europarat haben.
Wenn eine Zweidrittelmehrheit nicht erreicht wird, schadet das der Institution des Europarats und des Menschenrechtsgerichts, das dem Rat angehört, ernsthaft, so der SPD-Abgeordnete Schwabe. Kaum einer der 47 Mitgliedstaaten würde den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ernst nehmen.