Stand: 01.02.2023 20:32 Uhr
Mehr als 2 Millionen Türken können jederzeit ihre Rente beantragen – wenn sie 7.200 Tage arbeiten. Kritiker sehen darin einen Wahlkampftrick von Präsident Erdogan – und warnen vor den Folgen.
Die Tür des Renten- und Sozialversicherungsamtes im Istanbuler Stadtteil Onkapani wurde geschlossen. Mittagspause. Auf dem Bürgersteig bildet sich jedoch eine Linie.
Murat wartet vorne. Der 49-jährige Spielwarenhändler ist seit seinem 13. Lebensjahr im Geschäft. Er will wissen, ob er jetzt in Rente gehen kann. „Eigentlich ist es mit 49 noch früh“, sagt Murad. „Aber wenn der Staat dir diese Möglichkeit gibt, solltest du sie nutzen, oder?“
Deshalb kam auch Aysegül nach Unkapani. Sie sagt, sie arbeite, seit sie 16 Jahre alt sei. „Zugegeben, mit 43 in den Ruhestand zu gehen ist früh. Aber hierzulande ist es gerade für berufstätige Mütter sehr stressig“, sagt die Gastronomin. „Denn wir arbeiten nicht nur bei der Arbeit, sondern auch nach der Arbeit – zu Hause und mit Kindern.“ Die ganze Arbeit machte sie sehr müde.
Rentenalter aufgehoben
Lange Schlangen wie diese wurden vielerorts gemeldet, seit Präsident Recep Tayyip Erdogan angekündigt hatte, das Rentenalter abzuschaffen. Laut Erdogan betrifft dies zwei Millionen Menschen. Bisher kann eine Frau mit 58 und ein Mann mit 60 in Rente gehen. Ab Mitte Januar zählt nur noch die Arbeitszeit: 7200 Tage qualifizieren dann für die Rente.
Hier in der Schlange läuft es gut, Fatima zum Beispiel. „Ich bin zufrieden, sonst müsste ich noch drei Jahre warten“, sagt der 54-Jährige. Mein Mann ist Rentner, aber was bringt eine Rente? Allerdings: Gott segne Tayyip Erdogan! Ja, alles wird immer teurer, aber das ist nicht seine Schuld.
Das Einkommen reicht oft nicht aus
Mit solchen Stimmen rechnet Erdogan bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Frühjahr. Anders als Fatima machen viele Menschen seine Regierung für die desolate Wirtschaftslage der Türkei verantwortlich. Die türkische Lira sinkt und die Inflation liegt bei mindestens 80 Prozent. Die Rente reicht oft nicht aus.
Firdevs erlebt das derzeit in ihrer Familie. Ihr Vater ist gerade in Rente gegangen, er bekommt 200 Euro. „Er lebt in einer Mietwohnung und kommt nur schwer über die Runden“, sagt Verdifs. „Ich freue mich für ihn, weil er jetzt die Möglichkeit hat, meine Rente zu bekommen und auch zu arbeiten. So wird er mehr Einkommen haben.“
Rente ohne Ruhestand
Rente, aber keine Rente – um den Lebensunterhalt zu verdienen, das ist ein gängiges Modell. Fatmas Mann arbeitet extra, und Murat denkt auch darüber nach.
Eine junge Frau, die nicht will, dass ihr Name preisgegeben wird, stellt sich für ihren Onkel in die Schlange. Sie findet das unfair. Sie kritisiert, „da viele trotz Rente weiterarbeiten, ist das nicht wirklich eine Rente“. „Das ist Betrug. Ich habe gerade meinen College-Abschluss gemacht und warte auf einen Job.“ Aus ihrer Sicht sollten berufstätige Rentner den Arbeitsmarkt liberalisieren.
„auf Kosten künftiger Generationen“
Und es gibt noch ein weiteres Problem: Je früher die Menschen in Rente gehen, desto mehr zahlen sie nicht mehr für Versicherungen, was das System langfristig an den Rand des Zusammenbruchs bringt. „Das geht zu Lasten zukünftiger Generationen“, sagte der Wissenschaftler und Ökonom Senol Babushko im türkischen Sender Karrar. Es ist noch nicht klar, wie viel Schaden wir künftigen Generationen zufügen werden.
Auch die direkten Kosten für den türkischen Staat sind nicht bekannt. Nach Angaben des türkischen Arbeitsministers wird das Projekt mindestens fünf Milliarden Euro kosten.
Erhöhen Sie den Mindestlohn
Es ist nicht die erste kostspielige Maßnahme: Erdoğans Regierung hat kürzlich den Mindestlohn sowie die Gehälter im öffentlichen Dienst angehoben. Der Präsident steht wegen der Wirtschaftslage bei den Wahlen unter Druck – und die Wahlen finden im Frühsommer statt.
Der Ökonom Babuchou hält die Frühverrentung für ein Wahlgeschenk. „Um die Wahl zu gewinnen, hätten etwa 2,5 Millionen Menschen Anspruch auf eine Frühverrentung gehabt“, sagt er. „Ist das richtig oder falsch, ist eine andere Frage. Sicher ist, dass es die Kassen schwer belasten wird.“
Sofortrente als Wahlgeschenk?
In Unkapani ist die Schlange jetzt 30 Meter lang. Darin sind sich viele Abwartende einig: Erdoğan verfolgt mit seiner vorzeitigen Pensionierung ein ganz bestimmtes Ziel. „Die Wahlen stehen bevor. Vielleicht hat das damit zu tun? Natürlich“, beteuert Acegol, der wartet. „Das waren seine letzten Karten, und er hat sie jetzt gespielt.“
Auch der Mann in der Schlange stimmt ihr zu. „Das ist ein Wahlgeschenk“, sagt er, „er weiß, dass seine Tage gezählt sind. Deshalb macht er es.“ „Erwarten? Naja, zum Abschied. 20 Jahre mit diesem Typen – das reicht!“
Bisher gibt es kein geltendes Gesetz zur Frühverrentung. Dieser wird dem Parlament erst Mitte Januar zur Abstimmung vorgelegt. Doch das scheint nach Erdogans Ankündigung nur noch Formsache zu sein.